SPIELFELD

Interview

Interview: Gerd Schild · Fotos: Lucas Wahl

„Hamburg ist meine Heimat geworden“

Der feinfüßige Spielmacher ­Rodolfo ­Esteban Cardoso war in Hamburg fast gescheitert und wurde dann doch Publikumsliebling. Die Stadt gefiel ihm so gut, dass er bis heute geblieben ist. Im Interview spricht Cardoso über das Ankommen in Deutschland, Entbehrungen für die Karriere und wie er sich auf dem Platz durchsetzte, weil er nicht auf den Trainer hörte.

Der Start war nicht leicht: Rodolfo ­Esteban Cardoso kam 1997 mit vielen Erwartungen zum HSV. Doch in Hamburg wurde er bald als Fehleinkauf abgeschrieben, nach Argentinien verliehen, und er wollte nicht mehr zurück. Doch dann kam alles ganz anders. Zum Glück, denn beim zweiten Anlauf führte er den HSV zu magischen Champions-League-Nächten. Hamburg wurde zu seiner Heimat.

Wir treffen den heutigen Individualtrainer der U 19 des HSV zum Interview im Eiscafé Florenz in einem großen Einkaufszentrum in Poppenbüttel. Cardoso wohnt nur fünf Minuten entfernt und ist hier ein gern gesehener Gast mit seinem vierjährigen Enkel.

Es war nie so geplant, doch am Ende blieb er für immer in Hamburg: Rodolfo Esteban Cardoso.

Rodolfo Esteban Cardoso, Sie sind Anfang 1990 nach Deutschland gekommen, von Estudiantes de la Plata in Argentinien nach Homburg im Saarland. Internet gab es damals nicht. Wussten Sie, worauf Sie sich einlassen?
Ich wusste nichts von Deutschland und nichts von der Bundesliga. Im Fernsehen in Argentinien sah man damals nur die italienische und die spanische Liga, weil da die Argentinier spielten. Aber das war mir egal. Alle hatten den Traum, in Europa zu kicken. Also ging ich nach Homburg.

Wie entstand der Kontakt zur Bundesliga?
Es gab immer mal Anfragen von Spielervermittlern. Manche wollten, dass ich denen Videomaterial liefere, das sie dann nach Europa schicken können. Mein Trainer Eduardo Solari, der Vater des späteren Real-­Madrid-­Trainers Santiago Solari, hatte eine Kamera, und ich wollte sie mir ausleihen. Er sagte aber Nein – ich solle mich auf den Fußball konzentrieren, die ernsthaften Anfragen würden noch kommen.

Er sollte recht behalten. Kurze Zeit später holte Sie dann ein argentinischer Spielervermittler aus Köln nach Deutschland. Ihre ersten Eindrücke von Deutschland damals?
Deutschland ist schon sehr unterschiedlich im Vergleich zu Argentinien. Alles ist strukturierter, sachlicher, weniger emotional, sauberer, sicherer. Hier gab es saubere Kabinen, gute Trainingskleidung und am Monatsende das Gehalt, ohne dass man darum kämpfen musste wie manchmal in Argentinien. Leicht war der Start trotzdem nicht. Körperlich waren die Spieler hier Maschinen. Und ich bin im Winter angekommen, die neue Sprache, das intensive Training – ich habe zu dieser Zeit das erste Mal in meinem Leben Mittagsschlaf gemacht. (lacht)

Die argentinischen Fans gelten als legendär laut und emotional. Noch ein Kulturschock?
Bei Clubs wie Estudiantes ist das etwas anders als in Deutschland. Da sitzt du vielleicht mit einem Anwalt und einem Professor auf der Tribüne – und alle jubeln mit freiem Oberkörper. (lacht)

In Homburg blieben Sie trotz des Abstiegs in die zweite Liga insgesamt drei Jahre, wechselten dann zum SC Freiburg und spielten unter Volker Finke modernen, erfolgreichen Fußball. Ein Höhepunkt: Ihre beiden Tore beim 5:1 gegen Bayern München 1994. Warum hat es Sie trotzdem nach Bremen gezogen?
Werder
Bremen war damals ein großes Team, Otto Rehhagel wollte mich haben. Leider ist er dann aber zu den Bayern gewechselt. So richtig sollte es zwischen Werder Bremen und mir nicht passen.

Cardoso gibt seine Erfahrung als Individualtrainer der U 19 des HSV weiter.

Das war die Chance des HSV. Wie hat der Verein Sie überzeugt?
Felix
Magath und Bernd Wehmeyer haben sich richtig um mich bemüht. Magath hat ja auf meiner Position gespielt, das hat mir gefallen. Hamburg war ein Weltverein, die Stadt hat mir gefallen, es stimmte einfach alles.

Wieder eine neue Stadt – wer hat Ihnen beim Ankommen geholfen?
Meine Frau, wir hatten gerade geheiratet, sie war eine große Stütze für mich. Sie hatte beim Einkaufen immer ihr deutsch-spanisches Wörterbuch dabei. Von den Mitspielern war der Kontakt mit Bernd Hollerbach am engsten, der hat mir die Stadt gezeigt, wir sind viel essen gegangen in Altona, das war eine schöne Zeit.

Was schätzen Sie heute an Hamburg?
Hamburg
ist einfach eine schöne, große, grüne Stadt. Ich wohne im Norden, weil ich damals in die Nähe des Trainingsgeländes nach Norderstedt gezogen bin. Dort fühlt sich meine Familie bis heute wohl. Meine Kinder und mein Enkelsohn wohnen um die Ecke. Hamburg ist meine Heimat geworden.

„Ich habe nie etwas geplant in meiner Karriere.“

Rodolfo Esteban Cardoso

Wann haben Sie das erste Mal gedacht: Ich bleibe in Deutschland, werde in Hamburg heimisch?
Ich habe nie etwas geplant in meiner Karriere. Aber als Frank Pagelsdorf Trainer wurde, lief es für mich nicht gut beim HSV. Also ließ ich mich nach Argentinien verleihen, erst zu Boca und dann zu meinem Heimatverein Estudiantes. Ich sagte mir damals: Das war’s, wir bleiben in Argentinien. Meine Frau war mit unserem zweiten Kind schwanger, ich packte meine Sachen, meine Möbel, mein Auto in Container und ließ alles in die Heimat verschiffen.

Es kam anders. Sie kehrten im Sommer 1999 zurück nach Hamburg, überzeugten Frank Pagelsdorf, der sie längst aussortiert hatte, wurden zum Publikumsliebling und sind bis heute beim HSV. Die Wendung müssen sie erklären.
Estudiantes
konnte die Ablöse nicht bezahlen. Als ich also zurück nach Hamburg flog, holte mich Manager Bernd Wehmeyer am Flughafen ab und fuhr mich direkt zum Stadion. Das neue Stadion! Bei meiner Abreise eine Baustelle, war es nun fertig, ein Wahnsinn. Ich dachte mir: Hier will ich spielen.

Wie wurden Sie wieder zum Stammspieler?
Der Trainer wollte mich loswerden, nach Hannover oder Paderborn schicken. Jeder durfte mal auf der 10 spielen, nur ich nicht. Aber ich hängte mich rein, machte eine super Vorbereitung. Der Trainer ließ mich dann wieder spielen – aber auf Außen. Und Roy Präger spielte auf der 10 – dabei war der von außen stärker. Bei einem Freundschaftsspiel sagten wir nach fünf Minuten: Komm, wir tauschen. Der Trainer fuchtelte und schrie am Seitenrand, wir taten aber so, als würden wir ihn nicht hören, und machten beide ein super Spiel. (lacht) Und als ich beim UI-Cup-Spiel gegen Trabzonspor zur Halbzeit kam, lagen wir 0:2 zurück, ich bereitete zwei Tore vor. Danach lief es.

Er ging seinen eigenen Weg – mit Talent, Geduld und einem starken Willen.

Foto: Witters

Sie spielten danach groß auf für den HSV, führten den Verein in die Champions League und zu legendären Spielen wie dem 4:4 gegen Juventus Turin mit Zinédine Zidane.
O ja, wir haben so viel erlebt zusammen. Wir sind Dritter und Vierter in der Bundesliga geworden, was für eine Zeit! Aber auch in der Kabine lief es gut, ich habe einige Freundschaften geschlossen. Und: Frank Pagelsdorf hat mich zum Langlaufen in Österreich gezwungen, ich bin nicht den kleinsten Hügel hochgekommen. (lacht)

Sie wurden in der HSV-Zeit auch immer wieder von Verletzungen zurückgeworfen, mehrfach an den Knien operiert. 2001 etwa fielen Sie mehr als neun Monate aus. Wie behält man da die Hoffnung?
Das ist nicht immer leicht. Ich hatte ja gesehen, wie mein Kollege Karsten Bäron aufhören musste, weil es nicht mehr ging. Ich ließ mich zwischendurch auch bei Dr. Müller-Wohlfahrt und anderen Ärzten behandeln, war da auch mal weg von der Mannschaft und aus Hamburg. Das hat geholfen, um nicht zu ungeduldig zu sein. Ich habe jedenfalls alles für den Traum gegeben, oft auch mit Schmerzen gespielt. Das linke Knie ist schon neu, das rechte kommt auch bald dran, so ist das.

Sie haben sich als Kind Tore aus Baumstämmen gebaut, die Schule nach der siebten Klasse beendet und sind als Teenager in die Großstadt gezogen. Gab es nur einen Plan A, den Fußball?
Ich habe meinem Traum alles untergeordnet, bin schon mit 16 Jahren weg von zu Hause und aufs Internat in La Plata, 300 Kilometer von meiner Heimat Azul entfernt. Das war kein Internat wie heute, mit Schule und Hausaufgabenbetreuung. Wir haben nur Fußball gespielt. Aber das war ein großer Schritt, ich war auf mich allein gestellt, musste mich durchbeißen – der Schritt nach Europa war deshalb nicht mehr ganz so groß, weil ich Freunde und Familie ohnehin schon ein Stück weit zurückgelassen hatte.

Sie sind nach der aktiven Karriere seit mittlerweile 17 Jahren als Trainer im Verein, aktuell kümmern Sie sich als Individualtrainer um die U 19 des HSV. Wie blicken Sie auf die Fußball­jugend von heute?
Vieles hat sich verändert im Fußball. Das Spiel ist schneller, die Bälle und die Schuhe leichter, alles ist modern, um alles wird sich gekümmert. Aber eines ist gleich geblieben: die Einstellung der Jugendlichen, die es am Ende des Tages zum Profi schaffen. Du brauchst Talent, du brauchst Ehrgeiz und du brauchst Geduld. Und manchmal muss man einem Jugendlichen auch sagen, dass er Mist gebaut hat, wenn er Mist gebaut hat. Ich habe einen guten Draht zu den Jungs, denn die sehen ja an mir auch: Der hatte keinen leichten Weg, aber der hat sich durchgebissen.

„Ich bin glücklich, wie es ist.“

Rodolfo Esteban Cardoso

Sie waren 2013 für kurze Zeit für die HSV-Profis verantwortlich. Reizt Sie die große Fußballbühne noch?
Ich bin glücklich, wie es ist. Und wenn ich dann so Spieler wie Son, Mustafi oder Tah ein Stück begleiten kann auf ihrem Weg, dann macht mir das großen Spaß. Aber wenn ich auf meine Geschichte schaue, würde ich auch niemals Nie sagen.

Und nun zum Wetter: An der Alster ist Frost, in Ihrer Heimatstadt Azul werden es heute 25 Grad. Wie leben Sie mit dem Schietwetter?
Winter ist Winter, das mag ich auch ganz gern. Was ich nicht leiden kann, wenn es im Sommer keinen Sommer gibt, dann kriege ich schlechte Laune. (lacht) |