SPIELFELD

Ralf Becker

„Ehrlich und aufrichtig sein ist mir lieber als große Sprüche“

Interview: Alexander Nortrup · Fotos: Lucas Wahl

Ralf Becker ist seit fast einem Jahr beim HSV. Der 48-jährige Sportvorstand fühlt sich wohl an der Elbe und kann sich vorstellen, noch lange zu bleiben – denn er hat Pläne für die Zukunft.

Herr Becker, Sie waren Spieler, Trainer, Scout und Sportdirektor und sind nun Sportvorstand. Außerdem haben Sie Sportmanagement studiert. Haben Sie den 360-Grad-Blick auf das Fußballbusiness?

Das soll jetzt nicht hochmütig klingen – aber so ähnlich habe ich das vor meinem Dienstantritt in Kiel mal analysiert. Das war kein gezielter Karriereplan, aber irgendwann hatte ich alle Bereiche durchlaufen und konnte sagen: Selbst gekickt zu haben, das ist sicher gut. Die Trainerscheine gemacht zu haben – auch gut. Dann habe ich eine Scoutingabteilung geleitet – und weiß, wie es da läuft. Jugendleiter war ich auch, das hilft ebenfalls. All diese Erfahrungen waren wichtig und tun mir unheimlich gut in dem Job, den ich jetzt mache.

Und die Perspektive des Fans? Haben Sie die auch?

Na klar. Mit fünf, sechs Jahren war ich Gladbach-Fan. Das war ihre große Zeit, Mitte der Siebzigerjahre. Später nahm mich mein Vater zum VfB mit und ich wurde großer Stuttgart-Fan. Jahrelang habe ich in der Jugend selbst für den Verein gespielt. Ich war ständig mit der Kutte im Stadion. So war das damals – und die Begeisterung für den Sport hat sich bis heute nicht geändert. Ich bin halt Fußballer. Deshalb versuche ich auch, die Zahl der Sitzungen in meinem Job so gering wie möglich zu halten. (lacht) Im Ernst: Ich bin kein Jurist und kein Betriebswirt, ich komme total von der Basis. Ich kann sehr gut von meinem Beruf leben – aber wenn es im Fußball nichts zu verdienen gäbe, würde ich trotzdem hier arbeiten.Unsere Fans sind außerordentlich. Außerdem ist der Volkspark von der Atmosphäre her mit das Beste, was es in Deutschland gibt. Für mich ist die Unterstützung einfach nur genial. Auch bei den Auswärtsspielen ist der Block immer voll. Und wenn es die Möglichkeit gibt, kommen noch ein paar Tausend mehr mit. Ich hatte anfangs schon ein ungefähres Gefühl dafür, wie groß dieser Verein ist und wie sehr die Leute mitgehen. Aber wenn dann das erste Sommertraining vor 2000 Leuten stattfindet, ist das schon irre. Oder wenn die Fans beim Spiel gegen Holstein Kiel ein gigantisches Spalier bilden.

▷ Ralf Becker im Interview

Die Euphorie ist groß, aber Fans und Umfeld eines Vereins, wie der HSV einer ist, erwarten schönen, erfolgreichen Fußball. Zugleich wollen Sie ­wirtschaftlich nachhaltiger arbeiten. Kurzfristig handeln, langfristig denken – ist dieser Spagat nicht ziemlich anstrengend?

Keine Frage, unsere Lage ist eine große Herausforderung. Wir müssen in den nächsten Jahren viele Dinge richtig machen. Das Anforderungsdenken muss bescheidener werden. Dann kann man irgendwann auch sagen: Wir arbeiten nachhaltig. Wir brauchen Entwicklung, wir brauchen Erlöse und wir brauchen den sportlichen Erfolg. Wir wollen mutiger sein, jünger. Und Spieler besser machen. Für das alles wollen wir als Einheit auftreten und brauchen die Fans. Dann kann vieles funktionieren.


Die Emotionen der Menschen hier im Volkspark – ist das ein besonders schöner Lohn für den eher nüchternen sportlichen und wirtschaftlichen Weg, den Sie skizzieren?

Ich glaube das unbedingt. Es ist besser, offen und ehrlich zu sagen, was geht und was nicht. Dann kommt auch nicht gleich die nächste Enttäuschung. Fans können doch Wahrheiten viel besser ertragen, wenn man sie klar benennt. Wir versuchen, das Beste aus der Situation zu machen, aber es ist ein steiniger Weg. Wenn wir die Fans mit an Bord haben, steigt die Wahrscheinlichkeit sehr viel höher, dass wir unsere Ziele erreichen.

Von außen bekommt der HSV dagegen beißende Kritik und Häme, wenn es nicht so läuft.

Das stimmt – mir ist inzwischen klar, dass es Leute gibt, die es nicht so gut meinen mit dem HSV. Die reden lieber schlecht über den Verein. Ich glaube, dass sich dadurch bei uns und bei unseren Fans eine ganz besondere Gemeinschaft gebildet hat. Es ist ein bisschen wie beim FC Bayern: Wir sind auch keinem egal. Du spürst diese wahnsinnige Liebe unserer Fans und du spürst die Missgunst derjenigen, die sich freuen, wenn es bei uns nicht so läuft. Ich finde das gut, weil genau das den Fußball ausmacht mit all seinen Emotionen.


Die Zahl der Mitglieder, das Engagement der Fans – das sind Dinge, die es in vielen anderen Vereinen so nicht gibt.

Für mich ist das Wahnsinn, dass nach dem Abstieg mehrere Tausend Fans direkt Mitglieder geworden sind und dass die Dauerkarten so gut verkauft wurden.

Du steigst ab und rechnest damit, vielleicht in der zweiten Liga auch mal vor nur 8000 Leuten zu spielen. Und dann ist fast immer die Hütte voll. Wenn man so zusammenwächst wie jetzt, kann aus dieser Kraft ganz viel Gutes entstehen für die nächsten Jahre. Wir brauchen die Fans dringend. Denn unsere Ziele können wir nur zusammen erreichen.

Wenn statt eines Stars fünf Nachwuchsspieler kommen – wie sollen Emotionen aufkommen, wie soll Identifikation entstehen?

Das klappt, einige andere Klubs arbeiten ähnlich. Aber wir wollen niemanden kopieren, sondern unseren eigenen Weg gehen. Und wir machen das aus Überzeugung, unser Trainerteam steht voll hinter diesem Weg. Aber wir haben auch gar keine Alternative: keine Luftschlösser, keine großen Namen und keine großen Sprüche. Mir sind Ehrlichkeit und ein aufrichtiger Umgang mit der Situation lieber. Wir sind weiterhin ein wahnsinnig großer Verein. Aber das kommt momentan vor allem aus der Tradition und von den Fans, sportlich können wir gerade keine großen Töne spucken.


Stichwort Umbruch: Jogi Löw hat drei verdiente Nationalspieler vor die Tür gesetzt. War dieser Schritt mutig, nachhaltig oder falsch?

Es ist heutzutage egal, was man macht – diskutiert wird immer. Nach der WM gab es einen großen Ruf nach Veränderungen. Nun wurde etwas getan, und nicht alle sind damit zufrieden. Das gehört einfach dazu, es ist Teil des Alltags als Verantwortlicher. Es ist eine sportliche Entscheidung, sie ist hart – aber verwerflich ist sie sicher nicht.

Von außen bekommt der HSV dagegen beißende Kritik und Häme, wenn es nicht so läuft.

Das stimmt – mir ist inzwischen klar, dass es Leute gibt, die es nicht so gut meinen mit dem HSV. Die reden lieber schlecht über den Verein. Ich glaube, dass sich dadurch bei uns und bei unseren Fans eine ganz besondere Gemeinschaft gebildet hat. Es ist ein bisschen wie beim FC Bayern: Wir sind auch keinem egal. Du spürst diese wahnsinnige Liebe unserer Fans und du spürst die Missgunst derjenigen, die sich freuen, wenn es bei uns nicht so läuft. Ich finde das gut, weil genau das den Fußball ausmacht mit all seinen Emotionen.


Die Zahl der Mitglieder, das Engagement der Fans – das sind Dinge, die es in vielen anderen Vereinen so nicht gibt.

Für mich ist das Wahnsinn, dass nach dem Abstieg mehrere Tausend Fans direkt Mitglieder geworden sind und dass die Dauerkarten so gut verkauft wurden.

Du steigst ab und rechnest damit, vielleicht in der zweiten Liga auch mal vor nur 8000 Leuten zu spielen. Und dann ist fast immer die Hütte voll. Wenn man so zusammenwächst wie jetzt, kann aus dieser Kraft ganz viel Gutes entstehen für die nächsten Jahre. Wir brauchen die Fans dringend. Denn unsere Ziele können wir nur zusammen erreichen.

„Ich bin halt Fußballer. Ich bin kein Jurist und kein Betriebswirt. Ich komme total von der Basis.“

Kann man den Schritt des Bundestrainers mit dem neuen Credo des HSV vergleichen? Hier lief in dieser Saison die bislang jüngste Mannschaft auf.

Das sollte man schon unterscheiden. Die Nationalmannschaft hat wahnsinnig erfolgreiche Jahre hinter sich. Nun setzt man etwas mehr auch auf jüngere Spieler, und man wird sehen, wie es weitergeht. Bei uns ist es etwas anders. Wir brauchen einen Plan, wie man aus der schwierigen Situation wieder herauskommt, sportlich und wirtschaftlich. Und das Allerwichtigste ist der sportliche Erfolg. Aber wir wollen auch junge Spieler ausbilden, verbessern und fördern. Nicht zuletzt, damit sie eines Tages wieder Einnahmen generieren.


Das klingt nicht besonders romantisch: junge Spieler holen und vielleicht demnächst wieder verkaufen.

Dennoch ist das ein wichtiger Baustein. Wir müssen da fischen, wo wir können. Gestandene Spieler kommen eher nicht in die zweite Bundesliga.

Deshalb müssen wir mutiger sein als andere Vereine. Wir können auch kein Talent für zwölf Millionen kaufen, sondern vielleicht für zwei. Aber wenn wir es dann eines Tages wieder verkaufen müssen, wollen wir gern deutlich mehr dafür bekommen, als wir ausgegeben haben.

Kreativ sein auf dem Transfermarkt müssen alle. Hat der HSV eine besondere Idee, wie man auf Spieler zugeht?

Wichtig ist für uns: Die Spieler, die wir holen, kommen hierher, um gemeinsam diesen Weg zu gehen. Andere Vereine können vielleicht andere Ablösesummen und Gehälter bezahlen. Das ist nicht unser Konzept. Ein gutes Beispiel ist der einzige Transfer mit Ablösesumme, den wir im letzten Sommer getätigt haben: Khaled Narey. Für die zweite Liga ein sehr wichtiger, ein sehr guter Spieler. Er hat ganz klar auch das Potenzial für die Bundesliga. Das klingt nicht spektakulär und war in den Jahren zuvor vielleicht nicht das Anforderungsprofil und der Anspruch des HSV. Aber wie man sieht, passt es in der aktuellen Situation sehr gut. Und Khaled entwickelt sich hier ganz großartig.


Wie plant man einen Kader, ohne zu wissen, ob man aufsteigt oder nicht?

Wir haben für beide Ligaszenarien Spieler und Kader auf dem Zettel. Im Moment können wir nur Spieler verpflichten, deren Verträge im Sommer auslaufen und die ablösefrei sind. Das sollten Topspieler für die zweite Liga sein, die auch im Zwanzigerkader für die Bundesliga stehen und den nächsten Entwicklungsschritt gehen könnten. Deshalb haben wir etwa Jan Gyamerah aus Bochum geholt, einen Spieler, der uns auf jeden Fall in beiden Ligen weiterhelfen kann. Zwei, drei solcher Transfers kann man durchaus machen. Dann kann man auch schon Gespräche mit Spielern führen, die nur für die Bundesliga infrage kommen. Die kann man aber nicht zum Abschluss bringen, man bleibt nur im Austausch, am Drücker. Und schließlich gibt es Leihspieler. Aber auch die wollen natürlich wissen, wo du spielst.

Auch Sie selbst sind im letzten Mai gewechselt – von Kiel nach Hamburg. Hat sich inzwischen alles eingespielt für Sie und Ihre Familie?

Ich bin sehr froh und sehr stolz darauf, für den HSV zu arbeiten und mein Bestes geben zu dürfen. Wenn alles gut läuft, hoffe ich auch, hier eine lange Zeit bleiben zu dürfen. Die ganze Familie ist mit dabei, wir leben relativ zentral in einer total schönen Stadt. Wir haben einen Hund, da geht man dann auch mal ins Grüne, ein bisschen spazieren. Und ich fahre mit meiner Frau regelmäßig in die City, dort gehen wir gern essen. Genau das wollten wir: dass es auch ein Leben außerhalb des Fußballs gibt. Für mich als Familienvater und Ehemann muss es das unbedingt geben. Und für unsere Kinder ist der Wechsel auch gelungen: Als ich in Kiel war, haben wir auf dem Land in Eckernförde gewohnt. Unsere Kinder sind jetzt 15 und 18, für die ist es in Hamburg schon etwas spannender. (lacht) |